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Führung durch die Fabrikanlagen der Textilfirma Otto in Unterboihingen und Wendlingen

Samstag, 26.09.2015. Beginn der Führung (mit Hartmut Otto) um 10:00 Uhr. Treffpunkt: Portierhaus Unterboihingen (Heinrich-Otto-Straße 60). Kosten je Person: 6 €. 

Schon im Jahr 1815, also zur Zeit des Beginns des frühindustriellen Zeitalters, gründete Immanuel Friedrich Otto in Nürtingen eine Garnfärberei, die er seit 1817 zu einer Spinnerei erweiterte. Zusammen mit der verschwägerten Familie Melchior wurde dieses Unternehmen über Nürtingen hinaus ausgedehnt. Zwischen 1861 und 1911 entstanden an weiteren Orten entlang des Neckars, darunter in Unterboihingen und in Wendlingen, weitere Webereien und Spinnereien, die insgesamt 3000 Arbeiter, darunter viele Heimarbeiter, beschäftigten. Allen Betrieben gemeinsam war es, dass sie die vorhandene Wasserkraft und das Wissen der heimischen Garnspinner und Weber nutzten.

Als 1861 Heinrich Otto, der Sohn Immanuel Friedrichs, in Unterboihingen an der Eisenbahnlinie  eine große Fabrikanlage bauen ließ und zugleich arbeitsteilige Produktionsverfahren einführte, gelang auch der Durchbruch gegen die starke englische Konkurrenz. Als Heinrich Otto im Jahr 1906 starb, waren die von ihm gegründeten Firmen hinsichtlich der Anzahl der Spindeln und der Webstühle die größten in Württemberg. Allerdings hatte er die Firmen 1873 geteilt: Den Betrieb in Nürtingen erhielt sein Schwiegersohn Albert Melchior, das Werk in Unterboihingen sein ältester Sohn Robert. 1877 gründete er für seinen jüngeren Sohn Heinrich eine Firma in Reichenbach.

Auf dem Fabrikgelände in Unterboihingen sind mehrere Gebäude zu sehen, die heute in der Industrie- und Architekturgeschichte als Kulturdenkmale gelten. So wurde das alte Hauptgebäude, ein Travertin-Backsteinbau mit reicher Gliederung, nach den Plänen des renommierten Stuttgarter Baurats Otto Tafel errichtet. Das neuere Gebäude mit Turm wurde durch Philipp Jacob Manz, der als wichtigster Industriearchitekt dieser Zeit in Südwestdeutschland giltim Stil der Renaissance erbaut.

Robert Otto war es, der das Textilwerk in Wendlingen als Ergänzung zur bestehenden Spinnereiproduktion im Werk Unterboihingen gründete. Unter Federführung von Otto Tafel wurden neben der Weberei (1886/1892) ein Maschinenhaus für Wasserturbinen (1886), zwei Wohngebäude (1887/88), die Spinnerei (1889/1902), das Baumwollmagazin (1889) und der Speisesaal (1893) erbaut. Philipp Jacob Manz war für den Bau des Abfallmagazins (1897), für das Maschinenhaus mit Dampfturbine (1910), die Ausrüstungshalle (1925), das Kesselhaus (1927) sowie dem neuen Verwaltungsbau (1928) verantwortlich. Das Gebäudeensemble ist gestalterisch und funktional hervorragend konzipiert. Das bis heute vollständig überlieferte Industriedenkmal stellt ein in Württemberg einzigartiges Beispiel für Textilwerk dieser Zeit dar.

Wie sehr die Unternehmen Otto von der großen Politik abhängig blieben, belegt auch die Zeit des Nationalsozialismus. Der Firmenchef Fritz Otto, Sohn von Robert Otto, war ein entschiedener Anhänger der Bekennenden Kirche. Ihn ereilte ein Verbot, seine eigenen Betriebe betreten zu dürfen. Während des Krieges bekam die Daimler-Benz AG Fertigungsgebäude der Firma Otto in Wendlingen zugewiesen und stellte dort Schnellbootmotoren her.

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste ein schwieriger Neuanfang bewältigt werden. Die über viele Jahre zurückstehenden Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung und der heimatvertriebenen Neubürger erzeugten eine große Nachfrage an Textilien. Die Boomjahre nach der Währungsreform 1948 mündeten zu Beginn der 60er Jahre in einer Rezession. Auch die Firma Otto kam in schwere Bedrängnis, meisterte jedoch die Krise mit einem Team aus Vertretern der Eigentümerfamilien um den neuen geschäftsführenden Gesellschafter Armin Knauer. Es gelang sogar, Textilfirmen in Offenburg und in Wangen im Allgäu zu übernehmen.

Heute verbirgt sich unter der denkmalgeschützten Fassade die Otto-Textil GmbH, eine hochmoderne Spinnerei, deren Schwerpunkt in der Herstellung von Spezialgarnen zur Weiterverarbeitung vor allem im Nähfadenbereich liegt. Aber auch Webereien, Strickereien und Stickereien zählen zum Abnehmerkreis. Neben den synthetischen Spezialgarnen ist die Otto-Textil GmbH auch auf die Produktion hochwertiger Mischgarne mit Seide, synthetischen und zellulosischen Fasern spezialisiert, die hauptsächlich in der Damenoberbekleidung  sowie im Wäschesektor verarbeitet werden. Die Otto-Textil GmbH ist Teil des Wendlinger Unternehmens HOS Anlagen und Beteiligungen GmbH & Co.