Der
Blick in die
Vergangenheit drängt den „historischen“ Menschen zur Zukunft
hin, feuert seinen Mut an, es noch länger mit dem Leben
aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, dass das
Rechte noch kommt, dass das Glück hinter dem Berg sitzt, auf den
er zuschreitet. Der „historische“ Mensch glaubt, dass der
Sinn
des Daseins im Verlauf eines Prozesses immer mehr ans Licht
kommt; er schaut nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung
des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und
die
Zukunft heftiger begehren zu lernen. Die Geschichte steht jedoch
nicht im Dienste der reinen Erkenntnis, sondern des Lebens.
Die Geschichte dient nach
Nietzsche dem Leben des Menschen in
dreierlei Hinsicht: "sie gehört ihm als dem Tätigen und
Strebenden, ihm als dem Bewahrenden
und Verehrenden, ihm als dem
Leidenden und der Befreiung Bedürftigen". Nietzsche
unterscheidet dementsprechend eine "monumentalistische", eine
"antiquarische" und eine "kritische" Geschichtsbetrachtung.
Ihre Definition, ihre Vor- und Nachteile sollen im folgenden
beschrieben werden.
Die Geschichte gehört vor
allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der einen großen Kampf
kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie in seiner
Gegenwart nicht zu finden vermag. Der Tätige gebraucht die
Geschichte als Mittel gegen die Resignation. Zumeist winkt ihm
kein Lohn, wenn nicht der Ruhm, das heißt die Anwartschaft auf
einen Ehrenplatz im Tempel der Historie.
Es gibt Menschen, die sich,
im Hinblick auf das vergangene Große und gestärkt durch seine
Betrachtung, so beseligt fühlen, als ob, so Nietzsche, „das
Menschenleben eine herrliche Sache sei, und als ob es gar die
schönste Frucht dieses bitteren Gewächses sei, zu wissen, dass
früher einmal einer stolz und stark durch dieses Dasein gegangen
ist, ein andrer mit Tiefsinn, ein Dritter mit Erbarmen und
hilfreich - alle aber eine Lehre hinterlassend, dass der am
schönsten lebt, der das Dasein nicht achtet.“ Diese Menschen
glauben, dass sie selbst in dem Monogramm ihres eigensten
Wesens, in einem Werk, einer Tat, einer Schöpfung weiterleben,
weil es die Nachwelt nicht entbehren kann. Es ist der Glaube an
die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des Großen aller Zeiten,
es ist ein Protest gegen den Wechsel der Generationen und die
Vergänglichkeit.
Wodurch also nützt die
monumentalistische Betrachtung der Vergangenheit, die
Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten?
Der Mensch entnimmt daraus, dass das Große, das einmal war,
jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wieder möglich
sein wird; er geht mutiger seinen Gang, denn jetzt ist der
Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht das
Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen.
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Das "Rad der Geschichte"
deutet auf Bewegung und Veränderung, auch im Leben eines
Menschen, hin. Oben und unten in der gesellschaftlichen
Hierarchie, Glück und Leid, lösen einander ab. Die
Zeitabläufe schließen sich zu Kreisen. In scheinbar
neuen Dingen ist stets das Alte in Variation enthalten.
Während sich das Rad dreht, prägen sich dem Menschen
neue Ereignisse ein. Zeit wird sowohl in ihrer Bewegung
als auch in ihrer Wiederholung sichtbar.
Auf dem nebenstehenden Bild
fehlt ein Teil des Rades: Der soziale 'Aufstieg'
wird als schwierig oder unmöglich angesehen.
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Die
monumentale Historie
wird jedoch immer das Ungleiche annähern, verallgemeinern und
schließlich gleichsetzen; immer wird sie die Verschiedenheit der
Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der Ursachen die
Wirkungen monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig
hinzustellen. Solange das Motiv der Geschichtsschreibung in den
großen Antrieben liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt,
solange die Vergangenheit als nachahmungswürdig, als nachahmbar
und zum zweiten Male beschrieben werden muss, ist sie in Gefahr,
etwas verschoben, ins Schöne umgedeutet und damit der freien
Erdichtung angenähert zu werden. Nietzsche
schreibt: „Große Teile
der Vergangenheit werden vergessen, verachtet, und fließen fort
wie eine ununterbrochene Flut, und nur einzelne geschmückte
Fakta heben sich als Inseln heraus.“ Die monumentale Historie
täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen
Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum
Fanatismus.
Der
„antiquarische“
Historiker
pflegt das Vergangene. Die Geschichte gehört also auch dem
Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe
dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist;
durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein
ab. Indem er das von alters her Bestehende mit behutsamer Hand
pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er entstanden ist,
für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen - und
so
dient er dem Leben . Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche
und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit
dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des
antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich
darin ein heimisches Nest bereitet. Die Geschichte einer Stadt
wird ihm zu einer Geschichte seiner selbst. Er findet sich
selbst in allem, seine Kraft, seinen Fleiß, seine Lust, sein
Urteil, seine Torheit und Unart wieder. Hier ließ es sich leben,
sagt er sich, den es lässt sich leben; hier wird es sich leben
lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen.
So
blickt er, mit diesem „Wir“, über das vergängliche Einzelleben
hinweg. Den höchsten Wert hat der historisch-antiquarische
Verehrungssinn, wo er über bescheidene, raue, selbst kümmerlich
Zustände, in denen ein Mensch oder ein Volk lebt, ein Lust- und
Zufriedenheitsgefühl verbreitet. Wie könnte Historie dem Leben
besser dienen, als dadurch, dass sie auch die weniger
begünstigte Bevölkerungsschichten an ihre Heimat und Heimatsitte
anknüpft. Das Glück, sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu
wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe, Blüte und
Frucht herauszuwachsen und dadurch in seiner Existenz
gerechtfertigt zu werden - dies ist es, was man mit Vorliebe als
den eigentlichen historischen Sinn bezeichnet.
Der antiquarische Sinn eines Menschen,
einer Stadtgemeinde, eines ganzen Volkes hat jedoch immer ein
höchst beschränktes Gesichtsfeld; das allermeiste nimmt er gar
nicht wahr, und das wenige, was er sieht, sieht er viel zu nahe
und isoliert; er kann es nicht messen und nimmt alles gleich
wichtig und deshalb jedes einzelne als zu wichtig. Es besteht
die Gefahr, dass alles, was dem Alten nicht mit Ehrfurcht
entgegenkommt, also das Neue und Werdende, abgelehnt und
angefeindet wird. Der historische Sinn konserviert dann nicht
mehr das Leben , sondern mumifiziert es. Die antiquarische
Historie entartet selbst in dem Augenblick, in dem das frische
Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Die
antiquarische Historie versteht es lediglich, Leben zu bewahren,
nicht zu zeugen; deshalb unterschätzt sie immer das Werdende.
Sie hindert den Entschluss zum Neuen, sie lähmt den Handeln den,
der immer, als Handelnder, irgendwelche Pietäten verletzen wird
und muss.
Hier wird es deutlich, wie notwendig der
Mensch, neben der monumentalistischen und antiquarischen Art,
die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig
hat, die kritische: auch diese wiederum
im Dienste des
Lebens. Er muss die Kraft haben, eine Vergangenheit zu
zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er
dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich befragt, und
endlich verurteilt. Jede Vergangenheit ist wert verurteilt zu
werden - denn so steht es nun einmal mit den menschlichen
Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche
mächtig gewesen.
Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu
Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das
Urteil verkündet; es ist das Leben allein, jene dunkle,
treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht . Es gehört
sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen. Manchmal
verlangt dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die
zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben
gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgendeines
Dinges, eines Privilegs, einer Kaste, einer Dynastie zum
Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann
wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man
mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über
alle Pietäten hinweg.
Menschen, die auf diese Weise dem Leben
dienen, dass sie eine
Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und
gefährdete Menschen. Da wir nun einmal die Resultate früherer
Generationen sind, sind wir auch die Resultate ihrer
Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist
nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen.
Wir bringen es im besten Falle zu einem
Widerstreit der ererbten, angestammten Natur und unserer
Erkenntnis, auch wohl zu einem Kampf einer neuen strengen Zucht
gegen das von alters her Anerzogene und Angeborene, wir pflanzen
eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an,
so dass die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich
gleichsam im nachhinein eine Vergangenheit zu geben, aus der man
stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt. Dies
ist immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist, eine
Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden. Es bleibt zu
häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man
auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier und da
gelingt der Sieg doch, und es gibt sogar für die Kämpfenden, für
die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen,
einen Trost: nämlich zu wissen, dass auch jene erste Natur
irgendwann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende
Natur zu einer ersten wird.
Dies sind die Dienste, welche die
Geschichte dem Leben zu
leisten vermag; jeder Mensch und jedes Volk braucht je nach
seinen Zielen, Kräften und Nöten eine gewisse Kenntnis der
Vergangenheit, bald das monumentalistische, bald als
antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine
Schar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie
wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne,
denen Vermehrung der Erkenntnis das Ziel selbst ist, sondern
immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der
Herrschaft und obersten Führung dieses Zwecks.
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