Nachdem Eduard Mörike seine Vikarstelle in
Möhringen aufgeben musste, sollte er nach dem Beschluss der
Kirchenbehörde vom 18.5.1827 als Vikar in
Kirchentellinsfurt
eingesetzt werden.. Dieser Beschluss wurde
aufgehoben, als ihn der Köngener Pfarrer Nathaniel Gottlieb
Renz am 20.5. zu seiner Unterstützung anforderte. Am 24.5.
traf Mörike, von seiner im nahen Nürtingen wohnenden Mutter
kommend, in Köngen ein. Schon am nächsten Tag schreibt er
an seinen Freund Wilhelm
Hartlaub nach
Wermutshausen:
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"Jetzt aber schreibe ich
Dir weder von dort [Möhringen] noch von Nürtingen
noch von einem Dir bekannten Orte aus. Du musst ihn
nachher erraten ... . Der hiesige Pfarrer, den ich
anfangs nicht kannte, bat sogleich nach meiner
Entlassung um mich, was ich wegen der großen Nähe zu
Nürtingen (d.h. meiner betrübten Mutter) mit Freuden
ergriff .... jene Bittschrift des Pfarrers nämlich
kreuzte sich mit einem Dekret worin ich schon nach
Kirchentellinsfurt ... beordert war. So bin ich denn
hier; ich kann Dir nicht sagen, wie gerne. Die Gegend,
die Leute im Haus - alles ganz ander und feiner Korn als
in dem Möhringen. Das Pfarrhaus steht mit der (einst
sehr merkwürdigen) Kirche und dem Schulhaus isoliert auf
einer beträchtlichen Anhöhe über dem Dorf, das ich noch
gar nicht zu sehen kriegte, außer einigen Häusern, die
nach der Hinterseite zwischen dichten Bäumen
herausäugeln.
Von den vordern Fenstern aus hat man
nur die unbeschreiblich reizende und freie Aussicht auf
die Ebene, Hügel und halbversteckte Ortschaften um
Nürtingen, den ganz nahen Neckar in geschmeidigen,
glänzenden Krümmungen mit der berühmten steinernen
Brücke. Hiervon ist ein Volksmärchen über einen
Pferdsturz Herzog Ulrichs ins Wasser bei Gelegenheit
einer Schlacht. ... Unmittelbar vor meinen Fenstern
streckt sich unser Garten schief hinab, terrassenförmig
und ganz geometrisch angelegt; daraus erkennt man schon
meinen Herrn Pfarrer. ...
Gestern Nachmittag, Donnerstag, war
ich nach einem kurzen Maienregen im Garten und hatte
eine große Freude, den Haushund, einen mächtigen weißen
Pudel, einen Prügel apportieren zu lassen, der ging
endlich verloren, der Hund sah sich nach einem anderen
Prügel und ich mich nach einer anderen Beschäftigung um
...."
Auf seinem ersten Spaziergang in die
nähere Umgebung von Köngen ließ Mörike seine Gedanken
hinüber zur "blauen Wand", der Schwäbischen Alb,
fliegen. Erinnerungen an Urach wurden wach und so
schrieb er das Gedicht "Besuch in Urach" nieder,
das wohl schon längere Zeit in ihm "geschlummert" hatte:
" .... Da seid ihr alle wieder aufgerichtet, / Besonnte
Felsen, alte Wolkenstühle! ... . " Am 25. Mai schickte
er es - zusammen mit seinem Brief -seinem Freund
Hartlaub nach Wermutshausen.
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Eduard Mörike (* 1804,
†
1875),
deutscher Lyriker und Erzähler
Bleistiftzeichnung von Johann Georg
Schreiner, 1824
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In Köngen befasst sich Eduard Mörike
wahrscheinlich zum ersten Mal mit dem Gedanken, seine kirchliche
Karriere zu beenden. Neben seinem üblichen Missvergnügen über
die "Vikariatsknechtschaft" waren es auch
persönliche
Gründe, die ihn diesen Gedanken fassen ließen. Bei seinem
Amtsantritt wusste er nicht, dass sein unmittelbarer Vorgänger
als Vikar seit 1823 mit seiner Cousine und großen Jugendliebe
Klara Neuffer
verlobt war.
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Der am 8. September 1804
geborene Eduard Mörike hatte Klara (Klärchen) Neuffer
schon vor seinem Eintritt in die Uracher Klosterschule
im Jahre 1818 bei Besuchen kennen gelernt. Es
entwickelte sich eine kindliche Liebe, deren Idylle von
hinreißender Liebenswürdigkeit in dem Gedicht
"Erinnerung" (1822, umgearbeitet 1865) erzählt
wird. Die zarten Banden hielten sich einige Jahre. Erst
als sich Klara einem anderen Jungen, Christian Schmid,
zuwandte, trübten sich die Beziehungen. Am 20.12.1821
klagt Mörike in einem Schreiben an
Wilhelm Waiblinger:
"Aber noch einen Traum hatte ich damals ... Ich nannte
einst ein Wesen mein, wie Du eines Dein nanntest - Dir wards genommen aber Du hasts noch. Ich habs auch
verloren aber trauriger, - denn zu einem andern ists
übergegangen." In dem Gedicht
"Nächtliche Fahrt"
(1823) spielt die 'Kinderbraut', den biographischen
Tatsachen entsprechend, die Rolle der Treulosen, das
'vergessliche Herz'.
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Wilhelm Waiblinger
(* 1804, † 1830)
deutscher Dichter und Schriftsteller |
Im Herbst 1822 beginnt Eduard Mörike
sein Theologiestudium in Tübingen. Als er in den
Osterferien 1823 bei seinem Freund Lohbauer in
Ludwigsburg zu Gast war, begegnete er zum ersten Mal der
attraktiven Kellnerin Maria Meyer.
Sie, die allen
Männern, den Kopf verdrehte, machte einen tiefen
Eindruck auf ihn. Ihre ungewöhnliche Schönheit, ihre
rätselhafte Vergangenheit und ihre erotische
Ausstrahlung fesselten seine Phantasie und schlugen ihn
in Bann. Gerade weil er den Verlust
Klara
Neuffers noch nicht überwunden hatte, war er um so
empfänglicher für die neue Bezauberung.
Nach den Ferien wurden mehrere
Liebesbriefe gewechselt. Als Mörike von einem Freund von
der Untreue Marias erfuhr, unternahm er nichts. Eine
schriftliche Bitte Marias um eine Zusammenkunft wies er
zurück. Ihre Liebe war für ihn das Paradies gewesen.
Würde sich ihre Schuld als tatsächlich erweisen, wäre
dieser 'Liebes-Himmel' zerstört. Ein weiterer Grund für
die Zurückweisung mag gewesen sein, dass Mörike die
Liebe als schicksalhafte, als erotische Verlockung und
somit als Gefährdung für sich selbst angesehen
hat. Vielleicht waren es auch die
Moralbegriffe
seiner Verwandten und Bekannten, die ihn glauben ließen,
sie sei "seiner unwürdig" geworden. Ende Januar 1824
schreibt Eduard an seine Schwester Luise: "Ihr Leben -
so viel ist gewiss, hat aufgehört in das meinige
einzugreifen, als ein Traum, den ich gehabt und der mir
viel genützt." Der Traum vertrieb Enttäuschung und
Verzweiflung und erwies sich als nützlich, weil er
die wunde Dichterseele inspirierte. Die Poesie öffnete
Mörike das Tor, der bedrückenden Wirklichkeit zu
entrinnen.
Für Mörike wurde die rätselhafte
Maria, von der niemand wusste, woher sie kam, zum
Urbild seiner 'Peregrina', an die eine Folge von
fünf Liebesgedichten gerichtet ist. Am 6. Juli 1824
schrieb er das erste der fünf Peregrina-Gedichte, das in
seiner Novelle 'Maler Nolten'
an die dritte
Stelle gesetzt wurde:
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Ein Irrsal kam in
die Mondscheingärten / Einer einst heiligen
Liebe / Schaudernd entdeckt ich den verjährten
Betrug / Und mit weinendem Blick, doch grausam,
/ Hieß ich das schlanke / Zauberhafte Mädchen /
Ferne gehen von mir. Ach, ihre hohe Stirn, / War
gesenkt, denn sie liebte mich; / Aber sie zog
mit Schweigen / Fort in die graue / Welt hinaus.
/ Krank seitdem, / Wund ist und wehe mein Herz.
/ Nimmer wird es genesen. . . .
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Im
'Maler Nolten' hat Maria als
Vorbild für die Figur der Elisabeth gedient.
[Heute wissen wir, dass Maria Meyer am 27.12.1802 in
Schaffhausen als Kind einer Dirne geboren wurde].
Die - wenn auch gewollte - Trennung
von Maria Mayer traf den neunzehnjährigen Eduard Mörike
sehr hart. Er war verwirrt, tief verstört und
verzweifelt. Als sein Bruder August am 19. August 1824
starb (wahrscheinlich beging er Selbstmord), verstärkte
dies seine melancholische Stimmung.
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Als der empfindsame Mörike in Köngen von der
Verlobung seines immer noch geliebten Klärchens erfuhr, war es
für ihn ein weiteres großes Unglück. An seinen Freund Wilhelm
Hartlaub schreibt er, dass er "unvorsichtiger Weise" den neuen
Vikariatsort ausgewählt habe. Weiter heißt es in dem Brief:
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"... noch sonderbarer ist
die Parallele ... in welche ich
hier
gestellt bin. Mein Vorfahr (seit 3 Jahr) HE. Christian
Schmid, den Klärchen Neuffer glücklich macht, - ich
schreibe auf s. Tisch, mit seiner Tinte, alle seine
Effecten liegen noch um mich herum, (weder ist er noch
ich mit Sack und Pack auf u. abgezogen) und ich soll
kein Herzweh dabei bekommen, schwere Träume in seinem
Bett u. dergleichen? ... Er ist nun angestellt u. lässt
mich in seine alten Fußstapfen treten, so wie ich ihn
einmal in die meinigen; das ist doch billig von ihm,
gelt? Ein Dienst ist des andern wert! ... Genug! Ach
schon zu viel, Du könntest glauben, die Sache wäre mir
allzu wichtig."
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Klara Neuffer |
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Die Sache war ihm wichtig, er liebte sein Klärchen immer noch!
Und es sollte noch schlimmer kommen! Am 6. August 1827 fand in
der Kirche in Bernhausen, dort wo Mörike "als Knabe so oft mit
ihr gesessen" und an Ostern 1824 seine erste Predigt gehalten
hatte, die Trauung seines geliebten Klärchens mit Christian
Schmid statt. Seinen Gemütszustand drückt er in dem Gedicht
"Wo find ich Trost?" aus. Sein tiefes Empfinden ist auch in
dem Roman 'Maler Nolten' verarbeitet - auch Christian
Schmid kommt in der Figur des 'Otto Lienhart' darin vor. Die
äußere Reaktion auf diese Ereignisse war der Drang, "mit aller
Macht nicht nur von Köngen, sondern auch aus dem Kirchendienst"
herauszukommen. Im August 1827 schreibt Mörike an seinen Freund
Friedrich Kauffmann:
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"Wie gesagt, ich könnte
an keinem besseren Ort sein; meine Mutter und
Geschwister nur anderthalb Stunden von hier, aber
'Was zieht mir das Herz so? Was zieht mich hinaus?'
- Das, dass ich dieser Art von Lebensweise und dieser
Beschäftigung meine eigentliche und wahre Portion von
Kräften doch nicht ungehindert, ja fast gar nicht in
Wirkung kann treten lassen. Als Geistlicher, als Vikar
besonders, ich meine, als junger Prediger, steht
unsereiner unter ganz besonderen
lähmenden
Gesangsbucheinflüssen. Du kannst Dir schon denken.
Ich möchte im eigentlichen Sinne hinaus, wo kein Loch
ist."
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Auch Pfarrer Renz blieben Mörikes Absicht, seine Anstellung in
der Kirchenorganisation aufzugeben, nicht verborgen. Nach der
Rückkehr aus seinem Urlaub stellte Mörike bei von ihm sehr
geschätzten Pfarrer "sehr auffallende, beleidigte Mienen"
fest. In einer Notiz mit dem Datum 13.9.1827 (wahrscheinlich ein
Briefentwurf) mit dem Vermerk 'Morgens nach 7 Uhr'
schildert Mörike die Probleme genauer:
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"Ich kam vor 1/4 Stunde
hier an und noch gerade zum Frühstück; in Nürtingen [bei
der Mutter] musste ich, verspätet, über Nacht bleiben;
das verdross meinen guten HE. Pfarrer, wie ich sogleich
beim kleinlauten Empfang fühlen konnte. Es ist dies das
erste Mal, das unser inniger Vernehmen gestört wird."
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Am
gleichen Tag beginnt Mörike einen Brief an seinen Freund
Wilhelm Nast. Bei dem Satz "Ach, nur morgendes Tages gleich
fort möcht ich! Der Boden unter mir brennt mich .." wird er
unterbrochen und zu seinem Pfarrherrn gerufen, dem er nun Rede
und Antwort stehen muss. Bei diesem Gespräch ging es jedoch
nicht um seine verspätete Rückkehr, sondern um seinen Wunsch,
den Pfarrerberuf aufzugeben. Über dieses Zusammentreffen mit
Pfarrer Renz schreibt Eduard Mörike:
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"Der 1. Mann hatte
nämlich von fremder Seite her über meinen Entschluss -
den Stand zu ändern - erfahren und war wie natürlich,
horribel davon betroffen ... . Mit beleidigtem doch
zutrauensvollem Ton bat mich der Pfarrer um Erklärung.
... Wir redeten uns ganz aus und ich hatte den Trost,
einen vernünftigen und vielerfahrenen Mann in mich
hineinsehen lassen zu dürfen."
In dieser für Mörike sehr schwierigen
Zeit entstanden zwei Gedichte, die ihm Trost und
Zuspruch bringen sollten. Das eine,
'Um Mitternacht'
entstand Anfang Oktober 1827. Es beschreibt das Bild des
in der Nacht versickernden Tages, dessen stille
Geräusche, die nur im Schlaf vernommen werden können,
vom kurz zuvor Erlebten singen. Das andere Gedicht,
'Septembermorgen', wurde am 18.10.1827
niedergeschrieben: "Im Nebel ruhet noch die Welt, / Noch
träumen Wald und Wiesen: / Bald siehst du, wenn der
Schleier fällt, / den blauen Himmel unverstellt, /
Herbstkräftig die gedämpfte Welt / In warmem Golde
fließen."
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Pfarrer
Nathaniel Gottlieb Renz scheint Mörike auf die Schwierigkeit
hingewiesen zu haben, lediglich mit 'Poesie' das Geld für den
täglichen Unterhalt zu verdienen. Schließlich konnte er
erreichen, dass Mörike im November 1827 dem Evangelischen
Konsistorium in Stuttgart nur ein 'Gesuch um temporäre
Dispensation' einreichte. Das Gesuch begründete er mit
seiner Erkrankung ("Griesbeschwerden" und "Störungen im
Pfortadersystem"). Dem Gesuch wurde stattgegeben. Bis zum
Dezember 1827 bleibt Mörike in
Köngen. Alle Versuche
Mörikes, eine Hofmeister- oder eine Bibliothekarstelle zu
erhalten, scheiterten. 1828 nahm der beurlaubte Vikar das
Angebot des Verlegers Franckh in Stuttgart an. Er sollte
Erzählungen und Aufsätze für eine Damenzeitung schreiben. Aber
da er seinen Widerwillen gegen diese Art von journalistischer
Arbeit nicht überwinden konnte, kehrte er reumütig in den
Pfarrdienst zurück. Am 9.2.829 übernimmt er die Vikarstelle in
Pflummern.
Über das
Verhältnis zwischen Pfarrer Renz und seinem Vikar gibt
Friedrich Notter
(1801 - 1884) in seiner Mörike-Biographie
Auskunft. Notter war der Schwager von
Jakob Friedrich
Weishaar, dem Besitzer des Köngener Schlosses. Er schreibt
1875:
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"In dem reizend am Neckar
gelegenen Dorfe Köngen, wohin ich auf einige Tage zu
einem älteren Verwandten gekommen, der dort ein ehemals
adliges Schloss als Landaufenthalt bewohnte, traf ich
zufällig mit dem Dichter in dem Pfarrhause zusammen. ...
Ich befand mich in Gesellschaft eines Freundes ...
Karl Schmidlin, der ... jenes Talent der
humoristischen Mimik fast im gleichen Grade wie Mörike
... besaß. ... Beide junge Männer hatten lange
getrachtet, einander persönlich kennen zu lernen.
An einer anderen Stelle der Biographie
heißt es: "Von dem erwähnten Pfarrer
[Nathaniel
Gottlieb Renz] erfuhr ich einige Monate später ....
dass dieser Geistliche damals seinem jungen Vikar, oder,
richtiger gesagt, der deutschen Poesie überhaupt,
... keinen geringen Dienst geleistet hat. ... Der alte,
verständige Mann aber, obwohl in eigener Person nichts
weniger als dichterisch geartet und mit höchstem Eifer
der Mathematik und Physik ergeben, vermochte sich doch
so weit in das, was einem Dichter Not tut, zu versetzen,
dass er seinen Amtsgehilfen beschwor, sich ... doch ja
in keine Lage zu bringen, in welcher er genötigt sein
würde, durch die Poesie seinen täglichen Unterhalt zu
gewinnen und auf diese Weise zum gemeinen Handwerk zu
erniedrigen. ... Und so ließ er sich von dem wackeren
Alten ... vollständig überzeugen, was er später für sein
Glück erklärt hat."
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